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Stempeln oder abrackern: Wie Reality-TV armutsbetroffene Familien inszeniert
19.05.2025 In der Forschungswerkstatt des Masters in Sozialer Arbeit untersuchten Studierende im Herbstsemester 2024 die Darstellung armutsbetroffener Elternschaft in der deutschen Reality-TV-Show «Armes Deutschland – Stempeln oder abrackern?».
Das Wichtigste in Kürze
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In der Forschungswerkstatt des Masters in Sozialer Arbeit haben sich Studierende mit dem Repräsentation von Armutsbetroffenen im deutschen Reality-TV auseinandergesetzt.
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Im untersuchten Format werden zwei Typen Armutsbetroffener dichotomisch mit starkem Kontrast inszeniert: die, die «stempeln», und die, die sich «abrackern».
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Um das von Stereotypen geprägte Bild armutsbetroffener Elternschaft zu verändern, braucht es eine mehrdimensionale Darstellung: Ihre Lebenssituation soll angemessen und in ihrer Komplexität dargestellt werden.
Reality-TV erreicht Hunderttausende von Menschen – auch mit Formaten wie der Sozialreportage «Armes Deutschland – Stempeln oder abrackern?» des deutschen Privatfernsehsenders RTL II. Schon im Titel werden zwei Typen Armutsbetroffener – «Stempeln» und «Abrackern» – dichotomisch präsentiert. Dies kann ein stereotypes Bild von Armut in der Öffentlichkeit verstärken. Das ist auch für die Profession der Sozialen Arbeit wichtig, da sie Themen wie Armutsbetroffenheit innerhalb der in der Gesellschaft vorherrschenden Sicht bearbeiten muss. Deshalb wollten wir in unserem Semesterprojekt die Darstellung im Reality-TV genauer analysieren. Aufgrund der zugespitzten Debatte und der verbreiteten moralischen Vorstellungen legten wir den Fokus auf armutsbetroffene Elternschaft. Das Projekt hatte zum Ziel, einen konstruktiven Beitrag zu einem differenzierten, kritischen Diskurs über die Darstellung von Armut im Reality-TV mit Schwerpunkt auf Elternschaft zu leisten.
Unsere Forschungsgruppe hat sich vertieft mit einer Folge der Sendung «Armes Deutschland – Stempeln oder abrackern?» auseinandergesetzt. Die Episode «Schwanger!», von der knapp 19 Minuten Videomaterial analysiert wurden, legt den Fokus auf (werdende) Eltern und ist deshalb für unser Forschungsinteresse besonders relevant.
Was ist die «Forschungswerkstatt»?
Im Modul «Forschungswerkstatt» haben die Studierenden die Möglichkeit, selbst gewählte und entwickelte Fragestellungen in einem spezifischen Themenfeld der Sozialen Arbeit zu vertiefen. Der thematische Aufhänger im Herbstsemester 2024 war «Armut und Prekarität in der Schweiz». Welche Aspekte in diesem Themenfeld mit welcher Methode erforscht werden, entschieden die Studierenden nach ihren Interessen.
Im Rahmen des Moduls durchlaufen die Teilnehmenden einen (aus Zeitgründen) verkürzten, aber doch vollständigen Forschungsprozess: Von der Themenwahl über die Auswahl und Umsetzung passender Forschungsmethoden bis zur Präsentation der Ergebnisse und zur Reflexion des Prozesses. Dabei können auch noch nicht bekannte oder eingeübte Methoden erarbeitet und vertieft werden.
Während der Durchführung besteht ein kontinuierlicher Austausch mit den Dozierenden des Moduls und mit den anderen Gruppen, die eigene Forschungsprojekte durchführen. Neben forschungstheoretischen Inputs wird im Plenum gemeinsam empirisches Material aus den verschiedenen Projekten analysiert. Schliesslich werden die Ergebnisse mit einem eigens erstellten, wissenschaftlichen Poster den anderen Modulteilnehmenden sowie weiteren Interessierten präsentiert.
Reality-TV im Ethik-Check
Es zeigte sich schnell eine ethische Problematik, die für Professionelle der Sozialen Arbeit sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft stets präsent ist: Wie kann über Betroffene gesprochen und geforscht werden, ohne eine oberflächliche beziehungsweise stereotype Kategorisierung zu reproduzieren und schlimmstenfalls zur Stigmatisierung beizutragen? In Bezug auf die Darstellung armutsbetroffener Elternschaft im Reality-TV war dieses Dilemma besonders präsent, da RTL II seine Sozialreportagen grundsätzlich auf Klischees aufbaut und ganz bewusst Stereotypen inszeniert, um Aufmerksamkeit zu erregen. Diese Formate sollten nun untersucht werden, ohne Klischees zu reproduzieren. Ganz auflösen lässt sich die Problematik nicht, ihr wurde aber im Projekt durch reflektierte Kommunikation und sorgfältige Auswahl der Bilder möglichst entgegengewirkt. Es war dem Forschungsteam ein Anliegen, den Fokus auf die Darstellung des Themas durch RTL II zu legen und keinesfalls auf die armutsbetroffenen Eltern selbst.
Um das von Stereotypen geprägte Bild armutsbetroffener Elternschaft zu verändern, braucht es eine mehrdimensionale Darstellung.
«Schwarz-Weiss»-Modus
RTL II nutzt in seinen Reality-TV-Formaten unterschiedliche Elemente zur Darstellung. Es wird mit musikalischen und visuellen Effekten gearbeitet, um das Gezeigte zu unterstreichen und bei den Zuschauenden Emotionen zu erzeugen. So lässt beispielsweise ein dramatischer Tusch in der Musik, kombiniert mit dem «Schwarz-Weiss»-Modus, die Verkündung einer Schwangerschaft schockierend wirken. Dieser Eindruck bleibt, auch wenn die Protagonistin in der nächsten Szene erklärt, dass es sich um ein Wunschkind handelt. Auch durch andere narrative Elemente inszeniert RTL II gezielt: Zum Beispiel durch Untertitel wie «hat keinen Schulabschluss» werden die Protagonist*innen als ungebildet dargestellt. Zwei RTL-II-Stimmen führen durch die Sendung: Eine nachträglich aufgenommene Sprecherstimme ordnet die gezeigten Szenen ein und eine Kommentarstimme stellt den Protagonist*innen während des Drehs gezielte Fragen und macht Bemerkungen zu deren Handlungen. All diese Stilmittel werden eingesetzt, um die bereits im Titel angezeigte Gegenüberstellung der zwei Typen Armutsbetroffener, nämlich die, die «stempeln», und die, die sich «abrackern», dichotomisch mit starkem Kontrast zu inszenieren.
So wird «Abrackern» als «gut» dargestellt: Die Protagonist*innen dieses Typs sind im Niedriglohnsektor tätig oder aktiv auf Arbeitssuche – sie bemühen sich um eine Veränderung beziehungsweise arbeiten hart, um der Armut zu entkommen. Die vorgenommene Wertung beschränkt sich allerdings nicht auf die Arbeitsmoral, sondern scheint sich auch in stabilen Beziehungen und harmonischen Familienverhältnissen widerzuspiegeln. Im Kontrast dazu wird der Typ «Stempeln» dargestellt: Es scheint nicht nur der Arbeitswille zu fehlen und eine passive Lebensweise vorzuherrschen, sondern auch fehlende Bildungsabschlüsse, begangene Straftaten und problematische Beziehungsdynamiken werden in den Fokus gerückt.

Um das von Stereotypen geprägte Bild armutsbetroffener Elternschaft zu verändern, braucht es eine mehrdimensionale Darstellung: Ihre Lebenssituation soll angemessen und in ihrer Komplexität dargestellt werden. Die benötigte Repräsentation soll geschaffen werden. Soziale Arbeit kann – im Gegensatz zum untersuchten Reality-TV – dazu durch zusätzliche Forschung zum Thema und durch die Förderung der Medienkompetenzen der Fachpersonen, ihrer Klient*innen sowie der Bevölkerung beitragen. Zugleich soll Armut als Problem sozialer Ungleichheit und Folge gesellschaftlicher Strukturen thematisiert werden.
Videoaufzeichnungen in der Forschung
Da Videoaufzeichnungen einer Reality-TV-Show für die Sozialforschung eine eher ungewöhnliche Form empirischen Materials sind, war eine Erweiterung der klassischen qualitativen Forschungsmethoden gefragt. Um die Kombination visueller und verbaler Daten zu erfassen und verwertbar zu machen, bot sich die Transkription nach der «visual-verbal video analysis» (VVVA) von Fazeli et al. (2023) an. Das Videomaterial wurde mit dem leicht angepassten Raster verschriftlicht: Erfasst wurden die Elemente gesprochener Texte, Gesten und äusseres Auftreten, Screenshots, Szenenwechsel, Text auf dem Bildschirm, Ton (Musik), Emotionen der abgebildeten Personen und Emotionen im Forschungsteam.
Da aus Kapazitätsgründen nur eine begrenzte Anzahl Szenen transkribiert und vertieft analysiert werden konnte, wurden auch wichtige Kontextinformationen ausserhalb dieser besprochenen Sequenzen festgehalten, damit sie für die weitere Analyse nicht verloren gingen.
Die so erstellten Transkripte wurden, angelehnt an die «Grounded Theory» von Strauss und Corbin (1996), codiert. Dabei wurden Verbales, Musik- und Bildeffekte mit Codes versehen, die anschliessend zu Kategorien zusammengefasst wurden. Diese bildeten die Basis für die empirisch fundierten Ergebnisse, die im Laufe des Projekts erarbeitet wurden.

Literatur
- Fazeli, Sahar, Sabetti, Judith & Ferrari, Manuela. (2023). Performing Qualitative Content Analysis of Video Data in Social Sciences and Medicine: The Visual-Verbal Video Analysis Method. International Journal of Qualitative Methods, 22, 1–17. https://doi.org/10.1177/16094069231185452
- Strauss, Anselm & Corbin, Juliet. (1996). Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union.
Autor*innen
Kathrin Cornu, Studentin Master Soziale Arbeit
[email protected]
… interessiert sich für den Einfluss von Sprache und medial vermittelten Narrative auf die gesellschaftliche Realität und den Kontext der Sozialen Arbeit.
Anna Dietsche, Studentin Master Soziale Arbeit
[email protected]
…. setzt sich ein für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sowohl in städtischen als auch in ländlichen Räumen. Partizipation in der Stadt- und Quartierentwicklung sind die Schwerpunkte der sozio-kulturellen Animatorin.
Carmen Glaus, Studentin Master Soziale Arbeit
[email protected]
… beschäftigt sich mit der Rolle medialer Darstellungen bei Stigmatisierung, deren Einfluss auf politische Diskurse und den Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit.
Céline Mathieu, Studentin Master Soziale Arbeit
[email protected]
… ist Gruppenleiterin in einer Tagesstätte für Menschen mit Behinderungen und amtet als Gemeinderätin in den Ressorts Unterrichtswesen-Bildung, Soziale Wohlfahrt und Gesundheit.